Kopfschlächter

Kopfschlächter - Hörprobe Auszüge aus Kapitel 1 und 3

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Ira: Von Schafen und Lämmern

Katerina ist von anmutiger Gestalt. Zarte Gesichtszüge, feingliedrig sind ihre Hände. Sie ist schlank und sehr hübsch. Jeder hier im Schlachthof hat ein Auge auf diese tschechische Schönheit geworfen. Katerina arbeitet schon länger hier und ist eine Springerin. Das heißt, sie wechselt ihre Aufgaben fast täglich und übernimmt die Aufgaben von anderen Frauen, die wegen Krankheit oder Unlust ausfallen.

Hier am Schlachthof arbeiten so einige Frauen. Mit dem Töten der Tiere haben sie weniger zu tun. Außer bei der Hühner- und Putenschlachtung. Da arbeiten fast nur Frauen. Aber diese Abteilung ist bei uns eher klein, da die meisten Hühnerzuchtbetriebe selber schlachten und die Ware für die Supermarktketten direkt konfektionieren, weil Hühner aufgrund der hohen Salmonellen-Belastung schnell verarbeitet werden müssen. Die Frauen arbeiten bei uns in der Fleischverwertung: Zuschneiden, wiegen und abpacken, das ist ihre Arbeit.

Für uns Schlächter sind die Mädels eine willkommene Abwechslung. Es macht Spaß, mit ihnen zu feixen und ihnen in den prallen Po zu kneifen. Man kann mit ihnen derbe umgehen, kommen sie doch aus Osteuropa und sind froh, hier einen Job gefunden zu haben.
Die Mädels können so einiges vertragen – und wenn man anzüglich wird, so beschweren sie sich nicht, da sie Angst um ihren Job haben. Die osteuropäischen Frauen arbeiten nur zeitweise hier. Sie kommen in Kolonnen, bleiben für drei Monate und werden dann gegen neue Kräfte aus ihrer Heimat ausgetauscht. Frischfleisch für uns.

Für die Mädels lohnt es sich. Hier verdienen sie vier Euro die Stunde. In ihrer Heimat sind sie arbeitslos, kümmern sich um ihre Kinder und um die trunkenen Ehemänner oder haben Jobs, in denen sie viel weniger verdienen als hier.

Die Arbeiterinnen achten auch nicht auf die Arbeitszeiten. Warum auch. Jede Stunde bringt ihnen bares Geld und in ihrer Freizeit hängen sie eh nur in der Siedlung rum. Hier in Köln haben die Vertragsfirmen, über die die Arbeiterinnen am Schlachthof angestellt sind, billige Wohnungen in den ehemaligen belgischen Kasernen in Ossendorf oder in Chorweiler angemietet. Oftmals teilen sich vier Frauen ein Zimmer. Vom Gefühl her muss das wohl wie auf einer Bundeswehrstube sein. Aber den Frauen ist das egal. Sie sind eh nur für ein paar Monate hier. Und bessere Wohnverhältnisse würden ihr Einkommen schmälern. Sie arbeiten oftmals sechs Tage die Woche, zwölf Stunden am Tag und kommen somit auf über tausend Euro im Monat. Deutsche Frauen würden für vier Euro Stundenlohn mit Sicherheit nicht arbeiten.
Früher waren hier viele Kölnerinnen im Schlachthof beschäftigt, aber die Fleischindustrie muss die Kosten im Griff halten. Aldi, Lidl, REWE und McDonald‘s drängen auf preiswertes Fleisch. Und die Mastbetriebe sind durch die steigenden Futtermittelpreise an ihre finanziellen Grenzen gestoßen. So muss halt am Arbeitslohn gespart werden.

Ehrlich gesagt, sind mir die osteuropäischen Frauen auch viel lieber. Vor zwei Jahren hat das Arbeitsamt oft deutsche Frauen zu uns geschickt. Denen war die Arbeit zu ekelig oder zu schwer, die Räume zu kalt oder der Kaffee zu heiß, die Tiere zu wild oder zu tot. Und am zweiten Tag ward von den Deutschen keine mehr gesehen.

Die Schlachthofleitung ist bei der ganzen Sache auf der sicheren Seite, da die osteuropäischen Frauen über Subunternehmer angestellt sind. Irgendwie ist das schon witzig: Der Kölner Schlachthof liegt im „Wirtschaftszentrum West“ und die Frauen kommen aus Osteuropa. Na, ja – auch ein Weg der Völkerverständigung.

Katerina ist anders. Zum einen ist sie vom Körper und vom Wesen her zart, zum anderen macht sie keinen Scherz mit. Kneift man der Süßen in ihren Arsch, fährt sie hoch und überschüttet einen mit osteuropäischen Flüchen. Einem Schlachter hat sie sogar einmal die kochend heiße Suppe ins Gesicht geschüttet; dieser hatte ihre Brüste im Vorbeigehen berührt und „Wow – süße Titten“ gesagt. Katerina hat den Schwerenöter mit der Suppe geteert - unser Lachen ihn gefedert.
Diese Spannung aus Ruhe und Sturm macht sie für mich so anziehend. Sie ist anmutig, zart, authentisch und wild. Im Gegensatz zu den anderen Arbeiterinnen lebt Katerina schon immer in Köln. Das liegt daran, dass bereits ihre Eltern von Prag nach Köln gezogen sind. Katerina ist in Köln geboren.

„Guten Morgen, Katerina!“ Ich passe es morgens immer so ab, dass wir zur gleichen Zeit in den Schlachthof kommen. Die Schicht beginnt um sieben. Sie ist immer sehr pünktlich, unsere Begegnung hat somit was Normales und nichts Zufälliges. Katerina grüßt immer mit einem Lächeln zurück. Heute kam zum ersten Mal ein zartes „Hallo!“ über ihre vollen, roten Lippen.

„Darf ich mich zu Dir setzen?“ Obwohl sie die Sprachen der Aushilfskräfte spricht und auch hin und wieder als Dolmetscherin zwischen den Fremdarbeiterinnen und den deutschen Vorarbeitern aushilft, sitzt sie in der Mittagspause immer alleine in der Kantine.

Sie lächelt: „Ja, setz Dich.“

Heute gibt es Erbseneintopf. Ich lächele ihr nach jedem Löffel zu – und sie mir. Sie ist so schön, eigentlich zu schön. Sie hat bestimmt einen Freund. Ich spreche daher lieber über banale Dinge: „Gehst Du gerne ins Kino?“
Sie lächelt und schweigt. Isst ein paar Löffel und antwortet: „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber – das ist mein Lieblingsfilm. Das Farbenspiel, die Musik und der Tod des Tyrannen – Demütigung, Hass und Rache wurden noch nie so ästhetisch dargestellt.“

Stille.

Sie lächelt und schweigt. Ihre Körperhaltung ist verschlossen und signalisiert mir, dass sie sich nicht wirklich unterhalten will. Und trotzdem spüre ich ihre Wärme.

Ich nutze jetzt jede Mittagspause um mich zu ihr zu setzten. Meistens kommt nur ein freundliches, warmes Lächeln; selten ein paar Worte. Die Gespräche sind zäh, und doch dringe ich Tag für Tag ein Stück tiefer in ihr Gehirn vor. „Katerina, was machst Du in Deiner Freizeit?“

„Ach, Hartmut, weißt Du, ich habe wenig Freizeit, die ich wirklich genießen kann. Ich pflege meine Eltern, meine Mutter ist bettlägerig und mein Vater ein alter Mann, der sein Leben kaum noch geregelt bekommt. Ich wasche und füttere meine Mutter. Ich koche für die beiden und abends lese ich aus Büchern vor, da mein Vater aufgrund seiner schwachen Augen mittlerweile kaum noch lesen kann. Tagsüber hält er sich an den dicken Lettern des Express fest. Aber diese banalen Worte interessieren ihn nicht wirklich. Er will einfach nur am Leben festhalten. Und Lesen ist für ihn Leben. Es ist der letzter Strohhalm zu seiner Bildung.“
Das Eis ist gebrochen. So viele Worte hat Katerina an einem Stück noch nie zu mir gesagt. „Was haben Deine Eltern denn früher gemacht?“

„Mein Vater hat Geige und Cello an der Akademie der musischen Künste in Prag studiert. Er hat dort auch meine Mutter kennen gelernt. Nach ihrem Studium sind sie gemeinsam durch Europa gezogen und haben in vielen Orchestern gespielt. Zuerst im Osten, dann bei den Wiener Philharmonikern und bis zuletzt viele Jahre in Köln. Als ich geboren wurde, hörte meine Mutter auf zu geigen und kümmerte sich um mich und um das leibliche Wohl meines Vaters. Mein Vater hat es bis zum Kapellmeister gebracht. Er war sehr angesehen. Doch seit seinem Ruhestand erinnern sich nur noch wenige an ihn. Sein Ruhm ist verblasst. Aber es gibt zahlreiche Schallplattenaufnahmen von ihm und dem Kölner Orchester.“

Bing, Bong, Bing. Die Pausenglocke setzt unserem zarten Gespräch ein jähes Ende. „Es ist schön mit Dir“, lächelt sie mir beim Weggehen noch zu.

Seit diesem Tag warte ich immer auf die Mittagspause, eile sofort in die Kantine und warte auf meine Katerina. Ja, ich bin verliebt. Ich gehe deshalb auch nicht mehr zu den Nutten im großen Haus gegenüber.

„Spielst Du auch ein Instrument?“ Eine Frage unter vielen, die auf eine Antwort hofft.
„Ja, Geige, wie meine Mutter – nur nicht so gut. Immer wenn ich spiele, muss ich an meine Eltern denken, das verkrampft meine Hände und die Sehnen in meinen Gelenken beginnen zu schmerzen. Trotzdem spiele ich jeden Abend ein wenig für meine Eltern. Ich möchte, dass die Krämpfe aufhören und ich besser als meine Mutter werde. Ich höre mir oft frühe Schallplattenaufnahmen von den Orchestern meiner Eltern an. Ich höre immer Mamas Geige aus all den andern heraus.“

Bing, Bong, Bing. – „Katerina, möchtest Du heute Abend ins Mainzer Eck kommen? Ich würde mich freuen!“

Bis dahin zähle ich die Stunden und warte. Und warte.

„Na, Jungs – auch ’n Kölsch?“, frage ich Heinrich und Samir. Heinrich, Samir und ich stehen an der Theke. Heinrich sagt wie immer nichts – er trinkt und starrt teilnahmslos vor sich hin.

Samir versucht mir irgendetwas zu erzählen, doch ich kann mich nicht konzentrieren. Sobald sich die Schwenktür öffnet, schaue ich über meine Schultern, in der Hoffnung, dass Katerina über die Schwelle tritt.

Es ist ein Abend wie jeder. Das Paar, das letztens noch knutschend und fummelnd in der Ecke stand, ist auch wieder da. Nur, dass die beiden heute nicht knutschen.
Die Frau ist wütend. Er nippt an seinem Kölsch und lässt ihren Wortschwall über sich ergehen: „Mieses Schwein… hättest Du mir nicht sagen können? … Warum? … Aber du hast doch… gemeines Drecksschwein…“

Das sind die Wortfetzen, die ich mitbekomme. Er trinkt, sie redet sich in Rage. Dann, plötzlich: Ein lauter Klatscher hallt durch die rauchige Kneipenluft. Sie hat ihm eine geklebt und sein Bier über den Kopf geschüttet. Wir lachen, die Frau ergreift ihren Mantel und verlässt mit hochrotem Kopf die Kneipe. Na, ja – war wohl eher eine kurze Beziehung.

Wir drei trinken, ich hoffe und hoffe. Samir redet und redet. Heinrich schweigt und ist innerlich schon lange tot. Nichts passiert.

In den kommenden Tagen warte ich auf die Mittagspause, setze mich zu Katerina und dringe mit jedem Gespräch tiefer in ihre Seele ein.

„Tut mir leid. Ich kann abends nicht kommen. Meine Eltern.“

„Das geht Dir wohl sehr zu Herzen?“ frage ich mitfühlend.

„Nein, nein – nicht wirklich. Es ist etwas anderes.“ Mehr kommt heute in der kurzen Pause nicht über ihre Lippen.

Allabendlich stehe ich mit meinen beiden Kumpels am Tresen. Heinrich schaut gelangweilt, stiert vor sich hin und Samir quatscht mit irgendwelchen Leuten und reißt seine Schoten. Und immer wenn sich die Tür öffnet, schaue ich über meine Schultern – aber jedes Mal: Nichts. Ein Abend wie jeder andere. Ich trinke – und warte auf meine Göttin.
Heute früh ist Katerina nicht zur Arbeit erschienen und auch in der Mittagspause finde ich sie nicht in der Kantine. Ihre Schönheit, ihre Anmut, dieser Geruch. Sie ist nicht da, ich fühle mich von ihr verlassen.

Meine Wut lasse ich nach dem Essen an den Schafen und Lämmern aus, die diese Woche auf dem Schlachtplan stehen. Ich töte heute nicht aus Lust, sondern aus Zorn. Ich liebe Katerina und sie erwidert meine Liebe nicht. Ich weiß gar nicht, warum ich mich so um diese Liebe schere. Blöde Ziege, soll sie sich doch auch mal um mich kümmern und nicht immer nur um die halbtoten und verwesenden Eltern. Ich denke mich in Rage und werde immer fieser zu den blökenden Schafen.

„Ein Schuss für Katerina, ein Schuss für Papa, ein Schuss für Mama.“ Wüsste ich, wie Katerinas Eltern heißen, würde ich die Schafe natürlich mit deren Namen rufen. Aber aus Unkenntnis bleibt mir nichts anderes übrig: „Ein Schuss für Katerina, ein Schuss für Papa, ein Schuss für Mama.“ Sobald drei tot vor mir liegen, fange ich wieder von vorne an. Ich habe diese Familie heute siebzig Mal getötet. Was für ein Massaker.

Tage später, immer noch keine Katerina. Hätte ich meinen Geldbeutel heute nicht vergessen, würde ich nach der Schicht rüber ins große Haus gehen und einer dieser blöden Huren brutal ins Maul ficken und sie Katerina nennen.
„Alma, mach uns mal drei Kölsch. Und mach mir bitte ’n Deckel, ich hab‘ meine Kohle vergessen.“ In Köln ist es üblich, als Stammgast seine Getränke aufschreiben zu lassen und am Monatsanfang zu bezahlen, wenn wieder Kohle da ist. Ich werde mich heute zulaufen lassen und am Ende des Abends eine dieser blauen Pillen einwerfen. Weh‘ der Nutte, die ich heute Katerina nenne!

„Hallo!“ Katerinas zarte Stimme haucht mich an. „Entschuldige, ich konnte die letzten Tage nicht kommen. Mein Vater ist die Treppe runter gestürzt. Ich musste ihn ins Krankenhaus bringen, und seitdem kümmere ich mich alleine um meine bettlägerige Mutter.“

„Oh, das tut mir leid“, antworte ich beschämt. Gut, dass Katerina nicht weiß, wie oft ich sie und ihre Familie in den letzten Tagen gelyncht habe. „Ist es sehr schlimm?“

„Kommt auf die Perspektive an“, antwortet sie ausweichend.

„Ich meine – ist es schlimm mit Deinem Vater?“, frage ich nach und greife nach ihrer Hand. Ich will sie zärtlich berühren und zugleich Trost spenden. Ich habe sie bis heute noch nicht ein einziges Mal berührt. Nur in meinen Gedanken streiche ich ihr jeden Tag durchs Haar und liebkose ihren Körper. Trotz des Berufes hat sie zarte Hände.

„Fass mich nicht an!“, schreit sie mit hoch rotem Kopf. „Fass mich nicht an!“

Stille.
Dann, ganz leise: „Entschuldige, ich habe total überreagiert, ich bin sehr angespannt. Das galt nicht Dir. Mit Dir ist es schön.“

„Ich freue mich, dass Du hier bist“, versuche ich Katerina zu beruhigen. Sie ist sehr fahrig. Seltsam, dass eine zarte Berührung ihr Wesen so außer Kontrolle geraten lässt. Aber ich kenne diese Reaktion ja schon aus der Kantine, wo sie immer sehr ungehalten ist, sobald sich ihr ein Mann körperlich nähert.

„Möchtest Du ein Kölsch?“

„Gerne, ich rede gerne mit Dir“, erwidert sie meine Frage.

Wir schauen uns lächelnd an. So wie in der Kantine. Keiner erhebt die Stimme. Wir trinken und strahlen. Katerina ist so schön. Fast schon zu schön.

„Komm, lass uns an einen Tisch setzen. Ich möchte mit Dir reden.“ Ohne an die Hand zu nehmen leitet sie mich an einen freien Tisch.
„Ich kümmere mich mein ganzes Leben nur um meine Eltern. Ich war und bin immer für sie da. Ich lese ihnen vor, ich spiele Geige für ihre Erinnerungen, putze ihre Wohnung und wasche ihre Körper.“

„Das muss Dich sehr belasten. Du liebst Deine Eltern so sehr. Es muss wirklich schlimm für Dich sein, wenn Du ihren Zerfall Tag für Tag mitbekommst“, werfe ich ein.
„Sei einfach still, bitte schweig. Ich möchte reden. Ich muss reden! Hör mir einfach zu. Und unterbrich mich bitte nur, wenn Du etwas nicht verstehst oder meinen Worten nicht folgen kannst.“

Ich berühre ihre Hand, die sie wieder mit einem Zucken zurückzieht, nur dass sie mich diesmal anlächelt und nicht anschreit.

Ihre Blicke senken sich auf den Tisch, sie versucht jeden Blickkontakt zu vermeiden. Ich denke, es ist so wie bei der Beichte. Man öffnet seine Lippen, aber nicht die Augen.

„Vor vier Tagen habe ich Papa ins Krankenhaus gebracht, er ist von der Treppe gestürzt. Jetzt liegt meine Mama allein in dem großen Ehebett.

Als Kind lagen wir oft zu dritt in diesem Bett, immer wenn ich Angst hatte oder nicht schlafen konnte, durfte ich zu meinen Eltern ins Bett. Am Anfang war es immer schön. Aber dann wurde es anders.

Papa war groß und stark. Er hat mich beschützt. Mama nicht. Mama lag immer nur da. Ich war für Papa da. Papa ist der einzige Mann, der mich bisher im Leben berührt hat. Er hat mich gerne berührt. Ich ihn aber irgendwann nicht mehr.

Ich musste ihn immer berühren, auch wenn Mama neben uns lag. Oftmals hat sie mich ins Bett geholt und Papa hat auf uns gewartet.
‚Ich hab‘ Euch beiden das Bett aufgewärmt’, hat er immer gesagt. Mama hat nichts gesagt und sie war froh, dass es mich gab.

Wenn ich geweint habe, dann habe ich von Mama immer Kaugummi geschenkt bekommen und im Sommer gab es Eis von Papa.

Ich habe viel geweint. Und immer wenn ich heute Geige spiele, verkrampfen sich meine Hände, weil ich daran denken muss.

Papa hat mir, als ich neun Jahre alt war, ein Kaninchen geschenkt. Ich habe es Attila genannt. Attila war groß und flauschig. Morgens, wenn ich aus dem Bett durfte, habe ich Attila mit einer dicken Möhre gefüttert, die er immer mit großer Freude weggemümmelt hat. Ich kaute auf meinem Kaugummi und Attila sorgte dafür, dass die große Möhre immer kleiner wurde – und irgendwann ganz weg war.

An einem Sonntagnachmittag, kurz vor meinem zehnten Geburtstag, war Attila weg – der Stall war auf, mein Freund und Beschützer verschwunden. ‚Wo ist Attila, wo ist Attila?’ hab ich meine Mutter angeschrien. ‚Warum hast Du Attila nicht beschützt – warum ist er weggelaufen?’ habe ich sie angeschrien. Ich habe geschrien und geschrien und nicht mehr aufgehört damit.
Als mein Vater das mitbekam, lachte er laut: ‚Deine Mutter wollte auch mal ein kräftiges Stück Fleisch im Mund haben! Kaninchen sind halt zum Schlachten und nicht nur zum Streicheln da.’ Ich habe meine Mutter gehasst. Sie hat weder mich noch Attila beschützt.“

Ich berühre Katerinas Hand und sie lässt die Berührung diesmal zu. Es ist ein gutes Gefühl.

„Mama, hat sich dann einen Hund gewünscht. Ich fand das zuerst gut, da ich wusste, dass man Hunde nicht isst“, sagt Katerina und nippt an ihrem Kölsch.

„Aber dann hat der Hund immer an mir geschnüffelt und zwar immer an der Stelle, wo Papa seine Hand hingelegt hat. Von diesem Tag an habe ich den Hund gehasst.

Eines Morgens – Mama hatte vergessen, die Terrassentür zu schließen – habe ich den Hund genommen und bin mit ihm zum Bahndamm gelaufen. Unweit hinter dem Haus meiner Eltern verläuft die Bahnstrecke von Köln nach Bonn. Und hier herrschte schon immer reger Verkehr. Ich habe den Hund genommen, bin mit ihm zum Bahndamm und habe – kurz bevor ein Güterzug mit hoher Geschwindigkeit heran gerauscht kam – einen Stock über die Gleise geworfen. Der Hund raste los und wurde von der Bahn erfasst.
Mama hat den Hund gesucht, war sie sich doch ihrer Schuld bewusst, da sie die Terrassentür aufgelassen hatte. Sie fand die zerfetzte Hundeleiche am Bahndamm. Sie kam mittags weinend nach Hause. Das war das einzige Mal, dass ich sie hab‘ weinen gesehen.

Sie hat nie auf mich aufgepasst – aber sie ist doch meine Mama. Ich hasse sie – ich hasse sie!“

Katerina wird so laut, dass sich die Trinker von den Nachbartischen umdrehen, aber zum Glück sind alle so blau, dass sie die Worte nicht einordnen können.

„Warum hast Du Deine Eltern nicht verlassen?“, frage ich.

„Es sind doch meine Eltern, es sind doch die einzigen Menschen, die immer für mich da sind und mich lieben. Ich kann meine Eltern doch nicht verlassen. Bis vor vier Tagen habe ich Papa auch immer angerufen, wenn ich nach dem Vorlesen oder dem Geigenspiel zurück in meine kleine Wohnung kam. Er wollte doch wissen, ob ich auch sicher nach Hause gekommen bin.“

„Und jetzt ist das endlich anders?“

„Ja, alles ist anders. Ich habe es endlich geschafft. Weißt Du, unsere Gespräche haben mir gezeigt, dass es noch andere Menschen gibt auf der Welt, die sich für mich interessieren. Und dafür musste ich 35 Jahre alt werden.“

Katerina meint uns beide. Sie meint mich!
„ICH habe meinen Vater von der Treppe gestoßen! Er schaute mir mal wieder mit seinen geilen Blicken zwischen die Beine. ICH habe ihn von der Treppe gestoßen, endlich! Er liegt jetzt im Krankenhaus. Und ob er da nochmal raus kommt, weiß keiner.“

Ich zucke kurz zusammen. „Aber Deine Mutter, jetzt musst Du dich doch alleine um sie kümmern“, gelingt es mir noch einzuwerfen.

Katerina lacht. Sie lacht laut. „Seit vier Tagen mache ich ihr das Leben zur Hölle. Sie ist sehr gläubig, betet jeden Tag, bekommt aber aufgrund ihres Zustandes nicht alles mit. Ich habe in ihrem Zimmer einen Video-Beamer installiert und projiziere Höllenbilder an die Wand. Der Teufel tanzt rhythmisch den Tod, lacht sie aus und kotzt ihr dabei ins Gesicht. Ich habe sie im Bett aufrecht sitzend gefesselt, so dass sie die grausamen Bilder anschauen muss, wenn sie wach ist. Und dafür, dass sie wach ist, sorgen die Worte, Stimmen und Laute aus den Boxen, die ich neben ihrem Bett aufgestellt habe.

Wenn sie nach Papa oder mir schreit, gehe ich rot geschminkt mit einer schwarzen Perücke in ihr Zimmer und schreie ‚Willkommen in der Hölle!’ – Sie hat seit vier Tagen kaum geschlafen. Und weißt Du was? Sie liegt seit vier Tagen in ihrer eigenen Scheiße. Aber heute Abend darf sie sich ausruhen.
Morgen früh werde ich sie baden, ölen und liebkosen, so als ob nichts gewesen wäre. Morgen werde ich Mama lieben und für sie da sein. Sie soll spüren und erfahren, wie schön es ist, wenn ein Mensch für einen anderen Menschen da ist. Ich werde sie in den Arm nehmen und vor ihrer eigenen Hölle beschützen.“

Ich bestelle Kölsch. Wir trinken. Unsere Hände berühren sich. Mein Mittelfinger streicht über ihre roten Lippen. Wir küssen uns zaghaft. Ich liebe Katerina.

Lämmer und Schafe.

Seit zwei Wochen schlachte ich nichts anderes. Immer wieder – Tag ein, Tag aus. Jeden Tag wiederholt sich die Geschichte aufs Neue: Lämmer und Schafe.

Es ist bald Frühling und jeder meint, er müsse Lammfleisch essen. Doch heute Morgen sehe ich die Tiere mit anderen Augen. Ich entschuldige mich bei jedem einzelnen. Habe ich doch ihren Vorgängern, die seit letzter Woche wagonweise hier angerollt sind, hundertfach Unrecht getan. Ich habe die Tiere aus tiefer Wut und voller Hass getötet.

Am heutigen Tage töte ich die Schafe und Lämmer mit Liebe und Würde. Natürlich töte ich sie, das ist mein Job. Aber am Abend wird mich Katerina in ihre Arme schließen. Deshalb schaue ich heute jedem Tier vor dem Tod tief in die Augen.
Das einzige Schaf, das ich am Leben lassen werde, ist unser Leitschaf Stella. Stella wohnt hier im Schlachthof und kennt jeden Winkel.

Das Schlachten von Schafen und Lämmern ist etwas ganz Spezielles. Diese Tiere haben ein ausgeprägtes Sozial- und Herdenverhalten. Bereits bei der Geburt wird darauf von den Züchtern Rücksicht genommen. Lämmer und Muttertier werden niemals getrennt, sondern für mindestens drei Tage zusammen alleine gelassen, sodass sie eine intensive Mutter-Kind-Beziehung aufbauen können. Danach werden die Tiere in die bestehende Herde integriert.

Eine Herde besteht nur aus Lämmern und weiblichen Schafen und umfasst selten mehr als 200 Tiere. Die Mutter beschützt die Lämmer und die Herde insgesamt alle Tiere, die ihr angehören.

Die Böcke werden entweder einzeln oder in kleinen Gruppen gehalten und der Herde nur im Spätsommer zugeführt. Und bei einer Herdengröße von hundert fruchtbaren Muttertieren erledigen bereits zwei oder drei Böcke die Arbeit.

Auch zum Menschen haben Schafe ein tiefes Urvertrauen – ist es doch der Schäfer, der sich Tag ein Tag aus um seine Herde kümmert und sich jedes, einzelnen Tieres annimmt. Wenn es so was wie Glück unter Tieren gibt, dann sind Schafe die glücklichsten aller Schlachttiere.
Dieses Sozialverhalten macht uns das Schlachten leicht – wir müssen nur darauf Rücksicht nehmen, dass Schafe ausgeprägte Herdentiere sind. Wird ein Schaf von der Gruppe isoliert, dreht es durch und springt wild umher. Deshalb werden die Schafe immer in kleinen Gruppen im Schlachtgehege gehalten. Das Schafeschlachten ist daher ein gemütliches Geschäft. Pro Schicht kommen wir auf bis zu 200 Tiere, also 25 pro Stunde. Die Tiere werden schon am Vorabend angeliefert und kommen in die Schlachtboxen. Morgens wird die Herde mittels Stellgittern in kleine Gruppen zu zehn Tieren aufgeteilt.

Im Gegensatz zu Kühen oder Schweinen werden die Schafe nicht mit Elektroschockern in die Schlachthalle getrieben. Nein, sie gehen freiwillig. Hierbei hilft uns Stella. Stella gesellt sich zu der jeweiligen Gruppe, die als nächstes dran ist. Ihr bleiben rund 15 Minuten Zeit, sich mit den anderen Tieren anzufreunden. Stella ist ein erfahrenes Schaf und macht das gut und schnell. Sobald die Gruppe in die Schlachthalle muss, pfeift Samir auf seiner Schafspfeife. Stella blökt freudig und alle Schafe in der Gruppe mit ihr. Stella läuft vorweg, da sie den Weg kennt und alle anderen Schafe trotten ihr nach. „Määh. Määh.“ Sie wissen wirklich nicht, was auf sie zukommt.

Stella empfange ich bei jeder Runde erneut mit Freude, streichle zart über ihr Köpfchen und füttere sie mit einer Möhre. Bevor die anderen Tiere geschlachtet werden, verlässt Stella die Gruppe und gesellt sich zur nächsten.
Warum Stella das macht? Ganz einfach. Wir lassen Sie am leben, wie füttern und liebkosen sie.

Stella ist zudem das Maskottchen unseres Fußballvereins, in den nur Schlächter aufgenommen werden. Spielt der Verein „Schlachthammer 1972“, so ist Stella immer mit von der Partie. 1972 steht für das Gründungsjahr des hiesigen Schlachthofes.

In der Kölner Kreisliga sind wir gefürchtet. Wir führen zwar nicht nach Toren oder Punkten, haben aber die meisten Roten Karten. Unser Fußballspiel ist nicht schön, sondern kämpferisch und ähnelt einem zornigen Rachefeldzug. Um unsere Gegner einzuschüchtern, kennzeichnen wir unsere Gesichter mit jeweils zwei Blutstreifen unter den Augen und begrüßen sie mit einem schauerlichen Schlachtruf.

Da viele unterschiedliche Landsleute in unserem Verein spielen, haben wir uns auf keine Sprache festgelegt. Wir grölen und tanzen einfach nur furchterregend – ähnlich wie die Maori bei ihrem Haka, um den Gegner einzuschüchtern.

Aber so gefürchtet wir auf dem Feld sind, so beliebt sind wir am Rand des Spielfeldes. Wir sorgen für Stimmung, bringen immer was zum Saufen mit. Und natürlich: Fleisch – Berge von Fleisch, die auf den Grill kommen. Und für die feisten Partys nehmen unsere Gegner gerne mal ein böses Foul in Kauf. Es geht ja um den Spaß.
Heute gehe ich ausnahmsweise nicht mit. Ich gehe lieber direkt zu Katerina, um sie nach der Arbeit abzufangen.

Katerina arbeitet heute in der Geflügelschlachtung. Hier wurde eine hochmoderne Schlachtanlage montiert, die heute ihren Probelauf hat, und da Katerina als Springerin alle Abläufe im Schlachthof kennen muss, wurde sie heute Morgen eingewiesen und hat seitdem tausende von Puten in den Tod befördert.

Die Maschine sorgt für einen sanften Tod. Ein Vakuumrohr ergreift den Kopf der Pute oder des Huhnes, saugt diesen ein und entzieht den Lungen mit hohem Druck die Atemluft, sodass das Tier umgehend bewusstlos wird. Kleine Greifketten schlingen sich um die Krallen und ziehen das Tier nach oben, sodass es kopfsteht. Die Kreissäge sorgt für den Rest. Gerade noch gackernd durch die Welt gehüpft, hängen die Hühner in wenigen Sekunden kopfüber – und von diesem befreit – am langen Förderband. Es ist schon toll, was sich die Ingenieure so alles einfallen lassen.

Ich bin heute früh noch auf dem Weg zur Arbeit extra an der Tankstelle vorbei und habe eine rote Rose gekauft.

„Hallo Katerina!“ Ich knie mich vor sie auf den Boden.

„Willst Du meine Freundin sein?“, frage ich sie mit hoch rotem Kopf. Wir sind alleine am Fließband – nur hunderte von Puten kreischen um uns herum.
Weil es so laut ist und weil Katerina nicht reagiert, wiederhole ich meine Frage: „Willst Du meine Freundin sein?“

In meinem Kopf herrscht absolute Stille, es war das letzte Mal in meiner Jungend auf dem Dorf, dass ich diese Frage einem Mädchen gestellt habe.

Sie sagt nichts. Nicht endend wollende Stille in meinen Kopf.

„Mein Papa, mein Papa“, stammelt sie. „Nein, nein. Ich darf ihm nicht wehtun. Ich bin doch sein kleines Mädchen.“

Hunderte von Putenaugen starren mich an. Das Kreischen wird zu einem schallenden Gelächter. Hunderte von Puten lachen mich aus und stellen mich bloß.

Meine Backenzähne mahlen. Ich bin total blamiert. Knie mit einer gammeligen Rose auf dem Boden und himmle eine Frau an, die Vakuumrohre über Putenhälse stülpt. Und hörig an ihren Vater denkt. Ich bin zutiefst blamiert.

Ewige Stille pocht in meinen Schläfen.

„Papa! Papa!“ Wie oft habe ich diesen Mann in den letzten Tagen schon mit dem Bolzen in meinen Gedanken getötet. Ich möchte mit ihr reden, doch meine Zunge ist wie in einem Alptraum gelähmt. Ich möchte schreien, ich will meinen Schmerz laut heraus schreien.
Stille in meinem Kopf. Wie gelähmt verharre ich eine Ewigkeit auf dem Boden.

Endlich schaffe ich es, aufzustehen, ergreife zärtlich ihre Hände und drücke sie mit aller Kraft in zwei Vakuumröhren.

Die Hände werden von dem starken Sog festgehalten. Katerina blickt mich panisch an. Sie kann sich nicht befreien.

Das Förderband zerrt sie fort.
Ein lautes Surren der Kettensäge – und augenblicklich sind die beiden schönen schlanken Hände von Katerinas makellosem Körper für immer getrennt.

Demnächst im AAVAA-Verlag erhältlich!

Kommentare

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Sandra Grundéns

07.07.13 - 07:06

Super Buch!

krass geschrieben, aber sehr unterhaltsam ;-)

wann geht es weiter? Ich freue mich schon sehr!

Celina Hart

23.06.13 - 17:53

Ich freue mich schon sehr auf das nächste Kapitel. Ich möchte endlich wissen, wie es weitergeht. 

Meinen Freunden gehe ich schon auf die Nerven, weil ich andauernd von dem Buch schwärme.

Sahrah B.

21.01.13 - 11:24

Als erstes würde ich Ihnen gerne zu Ihrem außergewöhnlichen Schreibstil gratulieren. Den Inhalt lassen wir mal außer Acht... Mich würde es nur interessieren wann der Rest des Buches freigeschaltet wird oder ob es sich um einen technischen Defekt handelt... Ich habe angefangen zu lesen und muss gestehen dass ich wirklich neugierig bin. Es ist krank. Auf jede Art und Weise. Ohne Zweifel. Aber leider wahrscheinlich auch teilweise wahr. Dass der Protagonist dringend ärztliche Unterstützung braucht (falls eine reale Person), wissen Sie sicherlich selbst!!

Reiner

15.11.12 - 15:28

Nachdem ich alle 3 Kaptiel gelesen habe, weiß ich: Der Autor schreibt aus der Klapse! Aber ich will mehr davon. Wann schaltest Du weitere Kaptiel frei!


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